SCHREI DER STILLE


Die frühe Dämmerung eines bleigrauen Tages senkt sich über das Ruhrgebiet.
Es nieselt nebelfeine Tröpfchen, für die kein Schirm nötig ist.
Beharrlich bahnt sich das Wasser durch die Schichten der Kleidung seinen feuchten Weg.

Im Klinikum musste ich versprechen, nicht zu deinem Grab zu gehen.
Scheiß was auf Versprechen- ich agiere im Augenblick.
Ich fühle mich stark genug, dich zu besuchen.

Heute hatte ich den Termin beim Urologen in meinem Stadtviertel.
Ich habe die Zeit danach genutzt und bin zu mir nach Hause gefahren.
Habe den schwarzen Matrixmantel aus dem Kleiderschrank geholt und angezogen. Den trug ich auf deiner Bestattung.
Jetzt fahre ich zum Seiteneingang des Friedhofes.

Abendnebel steigt aus dem warmen Boden und spielt im Zwielicht um meine Füße. Wie schön, denke ich, mystischer kann es kaum werden bei meinem ersten privaten
Besuch an deiner letzten Ruhestätte.
Die klamme Luft zwingt mich, den engen Ledermantel zu öffnen.
Der Mantel weht fast bodenlang und weitschweifig hinter mir her.
Einen Sekundenbruchteil denke ich daran, was du jetzt sagen würdest:
„Geil- wie in einem Video von Ozzy Ossbourne!“, und mein Rücken strafft sich, ich schmunzle und trete fester auf.
 
Diesen Auftritt schenke ich dir.
Er ist so, wie du ihn dir vorgestellt hast.
Du bekamst immer alles, was du von mir haben wolltest.
Gemessenen Schrittes, mit geradem Rücken und hoch aufgerichtetem Kopf schreite ich die Reihen der Gräber entlang.
Es wird dunkler, der Nebel um meine Füße wabert dichter, umspielt meine Knöchel.
„Wer hat Angst vor der Schwarzen Frau“, denke ich und lächle mit feuchten Augen.
An deinem Grab angekommen knie ich mich in den zertretenen Rasen.

Der Kranz liegt noch auf dem Hügel des Urnengrabes, aber die Blumen in den dunkelgrünen, langhalsigen Plastikflaschen, die unten einen langen Stab haben, damit man sie in die Erde rammen kann, sind ausgewechselt worden. Diese Vasen gibt es auf Gräbern, seit ich mich erinnern kann.
Jemand denkt an dich, sage ich leise und freue mich für dich.

Die Blüten auf dem Kranz sind verwelkt, dein Name auf dem weißen Seidenimitat, um den Kranz herum gewickelt, ist kaum noch zu erkennen.
Dann laufen meine Tränen.
Ich ziehe den Mantel unter mich und setze mich im Schneidersitz auf die armseligen Grünreste vor deinem Grab.
So viele Gedanken gehen durch meinen Kopf, dass ich letztlich an gar nichts mehr denken kann.
Led Zeppelin klingt in meinen Ohren „Stairway to heaven“…, oh ja…
Dein Totenlied:
„Da ist eine Dame, die glaubt, alles, was glänzt, ist Gold und sie kauft sich eine Treppe in den Himmel…“
Deine Treppe in den Himmel war Kokain, das du mit Alkohol ausgetrieben hast.
Glaubtest du.
Doch die Depression war stärker, zwang dich in die Knie, siegte über deinen Lebenswillen.

Meine Fingerspitzen berühren den Erdhügel über deiner Urne, so als könnte ich dich durch das feuchte Dunkel spüren.
Doch da ist nichts.
Gar nichts.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Zu Staub wurdest du verbrannt und in einer lächerlich winzigen Urne beigesetzt.
Über 50 Trauergäste kamen zu deiner Bestattung.
Einzelne Freunde warfen Geld und Drogen in das dunkle Loch, in dem dein letztes Zuhause ist.

Wo waren sie, als du sie gebraucht hast?
Niemand war bei dir, als du in Deiner letzten Minute mit der Rechten verzweifelt auf deine linke Brust schlugst und mit erschütternder Klarheit begriffst, dass dein Leben nun wirklich zu Ende war.
Dein langersehnter Wunsch wurde endlich erfüllt, aber so hattest du dir dein Lebensende nicht vorgestellt.

Mein Puls beginnt zu rasen, ich ahne furchtsam, dass gleich etwas geschehen wird, was mein Leben unweigerlich verändert.
Gequält atme ich tief ein in grauenvoller Erwartung dessen, was kommt.
Dann ist da der Schmerz, unvorstellbar brutal und reißend in meiner Brust.

Ich werfe den Kopf in den Nacken und schreie lautlos, den Mund weit geöffnet.
Die Tränen laufen heiß und ätzend aus den Augenwinkeln über mein feuchtkaltes Gesicht.
Ich kann sie nicht aufhalten, kann den Schmerz nicht bekämpfen, so sehr ich dagegen anzuatmen versuche. Angst rollt in einer gigantischen Woge auf mich zu, verschlingt mich. Mein Atmen stoppt, ich höre auf, mich zu wehren.
Ich ergebe mich der Todesangst.
Opfere mich der Verlassenheit, der Einsamkeit und der Gewissheit, dich nie wieder zu sehen. Lasse mich fallen in den Tiegel voll weißglühendem Stahl, in den Schauer roter Funken und blausilberner Flammen, die alles vernichten, was organisch ist.
Die Hitze versengt meine Seele, verbrennt meine Erinnerungen an das Leben mit Dir, reißt mir das Herz aus der Brust. Ich sterbe, jetzt, in diesem Moment…

Ich sehe plötzlich die kleinen blaugelben Gasflammen des Krematoriums aus unzähligen z-förmig angeordneten Düsen strömen, mit ihren niedlich hellen Spitzen, und weiß, dass sie zerstören werden, was von mir übrig geblieben ist.
Ich muss hier raus- schnell, noch schneller, aber ich kann mich nicht bewegen.
Dann wird das Gas aufgedreht und aus den hübschen gelben Spitzen werden messerscharfe blauweiße Lanzen, die mich berühren, verbrennen, zerstören- alles, was von mir übrig ist…
Ich schreie, ich schreie so laut ich kann, aber kein Ton dringt über meine Lippen.
Ich fühle nichts, aber sehe, wie ich zu Staub zerfalle- ich bin doch da!
Ich bin hier, fühlt ihr mich nicht?
Ich bin hier, immer und überall, ich bin …
Verdammt noch mal, ich lebe doch!

Leichte Regentropfen fallen zärtlich auf mein Gesicht und streicheln mich in die Gegenwart zurück.
Keuchend erwache ich aus einem Bewusstseinszustand, den ich nie zuvor erlebte und in den ich nie wieder eintauchen möchte.
Immer noch hocke ich schwer atmend vor deinem Grab, noch brennt die Qual des soeben Erfahrenen in meiner Seele.
Meine Finger sind bis zu den Handknöcheln in die Erde deiner letzten Ruhestätte versenkt.
Ich zittere am ganzen Körper und komme nur langsam zurück in die Realität.

Die Nacht hat sich während meiner Trance vollständig über den stillen Flecken Erde gelegt, in dem so viele Menschen ihr letztes Zuhause gefunden haben und finden werden.
Immer noch weine ich lautlos, doch jetzt sind die Tränen Balsam für meine wunde Seele.
Du bist nicht hier unten, denke ich, und sehe zu den hohen, alten Bäumen hinter dem Gräberfeld auf, deren kahle Äste und Zweige sich in den dunklen Nachthimmel recken.
Warum hast du mich verlassen?
Wie konntest du das tun?

„Ich habe dich nie verlassen“, sagt eine Stimme in mir, und ich richte mich vorsichtig auf, meine Finger lösen sich langsam aus der dunklen Erde deines Grabhügels.
Meine Knie sind weich, ich kann mich kaum aufrichten.
Dann verstehe ich.
Ein Teil von dir wird bei mir bleiben, bis ich dir auf die letzte Reise folge.

Zitternd stehe ich vor deinem Grab.
Die Stille der Nacht und des Friedhofes umfängt mich mit ungekannter Geborgenheit.
So viel Liebe ist hier, so viel freundliche Kraft…  Ohne Hast kehre ich durch den Nebel und die Stille zurück zum Auto.
Ich muss wieder in die Klinik. Die Therapeuten werden mich verurteilen, weil ich meinen Vorsatz gebrochen habe, nicht zu deinem Grab zu gehen.

Wenn schon- es ist immer noch mein Spiel; ich spiele das Spiel nach meinen Regeln.

Das war es wert.
Du warst es wert.

(c) beim Autor März 2010


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